"Der Spiegel" über den Krieg der Deutschen gegen die Herero
 


Die Peitsche des Bändigers


Nach Luftkrieg und Vertreibung wird ein drittes Tabuthema virulent: die Kolonien der Deutschen. Vor 100 Jahren trieben kaiserliche Truppen in Deutsch-Südwestafrika Zehntausende Herero in den Tod. Jetzt verlangen die Nachfahren Entschädigung für den Völkermord.
Von Jochen Bölsche
(Spiegel Nr. 3, 2004)

Beim Konditor gibt's Schwarzwälder Kirsch, im Restaurant Schnitzel, im Biergarten Buletten und Brezeln - nirgendwo in Afrika fühlen sich deutsche Touristen so wohl wie in Windhuk, der Hauptstadt von Namibia, Kaiser Wilhelms einstiger Kolonie Deutsch-Südwestafrika.
Koloniales Erbe ganz anderer Art kommt am Rande der Stadt zur Sprache, in den Elendsquartieren eines Vororts namens Katutura - auf Deutsch der "Ort, an dem wir nicht bleiben wollen".

Dorthin hatte das brutale, erst 1990 abgelöste Apartheid-Regime von Südafrikas Gnaden Zehntausende Schwarze verbannt. Großbuchstaben an den Wellblechhütten signalisieren noch immer die Stammeszugehörigkeit der verarmten, von Aids und Mangelernährung geplagten Bewohner: N wie Nama, D wie Damara, H wie Herero.

Der Versammlungssaal der Herero ist zum Bersten gefüllt, als Stammeschef Kuaima Riruako, 67, über die "Wiederentdeckung der Vergangenheit" spricht und einen Aufruf an sein Volk verliest, den fast 100 Jahre zuvor der Kommandeur des Kaisers, Generalleutnant Lothar von Trotha, erlassen hat und der als "Vernichtungsbefehl" in die Geschichte eingegangen ist:


Ich der große General der deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Herero sind nicht mehr Deutsche Untertanen ... Das Volk der Herero muss ... das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr (Geschütz) dazu zwingen ... Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero.

Die Worte des "großen Generals des mächtigen Deutschen Kaisers", wie Trotha den Schießbefehl unterzeichnete, waren keine leere Drohung.

Einen verzweifelten Aufstand der halbnomadischen Rinderzüchter gegen die deutschen Kolonialherren im Jahre 1904 überlebten nach Schätzungen von Historikern nur 20 000 der damals 80 000 Herero. Drei Viertel des Volkes verreckten im Feuer deutscher Geschütze und Gewehre, verdursteten auf der Flucht durch die Omaheke-Halbwüste oder krepierten in den (schon damals so genannten) Konzentrationslagern der Kolonialherren.

Für den Herero-Oberhäuptling und Stammespolitiker Riruako steht außer Zweifel: "Die Deutschen haben sich mit dem Holocaust an Juden, Sinti und Roma beschäftigt, nun werden sie sich auch mit dem Genozid an den Herero auseinander setzen müssen." Daher, so der Häuptling, gebühre seinem Volk eine "Wiedergutmachung für den Genozid". Seine Forderung, insgesamt zwei Milliarden Dollar, will Riruako mit Hilfe von US-Gerichten durchsetzen.

Ob der juristische Vorstoß gelingt oder nicht - 100 Jahre nach dem Herero-Aufstand vom 12. Januar 1904 und seiner grausamen Niederschlagung nach der Entscheidungsschlacht am Waterberg am 11. August 1904 werden die Deutschen, so scheint es, ihrer kolonialen Vergangenheit nicht länger ausweichen können.

In Namibia rolle eine Welle von "Gedenken, Aussprachen und wahrscheinlich auch Ausstellungen über Gewaltakte vor allem der deutschen Kolonialperiode", meldet die "Allgemeine Zeitung" in Windhuk. Vor dem Thema, mahnt das deutschsprachige Blatt, dürften sich die in Afrika lebenden Nachfahren der Kolonialherren ebenso wenig "drücken" und "davonschleichen" wie die Regierenden in Berlin.

Den Forderungen nach Wiedergutmachung setzt die Bundesrepublik das Argument entgegen, die Verbrechen der Kaiserzeit hätten damals "keinen Verstoß gegen geltendes Völkerrecht" dargestellt - und seien im Übrigen verjährt.

Außenminister Joschka Fischer gab im September 2001 bei einer Antirassismus-Konferenz der Uno in Durban zwar sein "tiefes Bedauern" über Deutschlands koloniale Vergangenheit zu Protokoll. Als Fischer unlängst aber dem namibischen Präsidenten Sam Nujoma einen Besuch abstattete, lehnte er eine formelle Entschuldigung für das Omaheke-Massaker ab.

Der Grüne wollte "keine Äußerung vornehmen, die entschädigungsrelevant wäre". Allerdings werde Deutschland für die ehemalige Kolonie weiterhin der wichtigste Entwicklungshelfer sein.

Die Herero argumentieren, die Entwicklungshilfe für Namibia komme nicht ihnen zugute, sondern den Ovambo, die unter den Deutschen gar kein Land verloren hätten, aber die Mehrheit der Swapo-Regierung stellen. Deren Premierminister Theo-Ben Gurirab zeigt wenig Interesse an dem Herero-Prozess in den USA: Das Verfahren, betont er, werde "von traditionellen Führern betrieben und nicht von der namibischen Regierung".

Nicht nur die düsteren Jahrestage haben dazu beigetragen, dass Deutschlands koloniale Vergangenheit mehr und mehr auf die Agenda drängt. Eine neue Generation von Historikern und Schriftstellern ist im Begriff, die halb vergessene, halb verklärte Ära zwischen 1884 und 1918 aufzuarbeiten, in der Deutschland das nach England und Frankreich drittgrößte Kolonialreich der Welt bildete und über zwölf Millionen Menschen in Übersee herrschte; die von Berlin aus regierten Besitzungen in Afrika, China und Ozeanien waren fünfmal so groß wie das Mutterland.

Jahrzehntelang war diese Phase deutscher Politik in der Bundesrepublik kaum ein Thema gewesen. Was immer Schlimmes in jener Zeit geschehen sein mochte, als der höchste deutsche Berg nicht Zugspitze, sondern Kilimandscharo hieß - aus der Perspektive der Nachgeborenen waren alle Ereignisse in dieser Zeitspanne überlagert durch die Gräuel zweier Weltenbrände und durch den Horror des Holocaust.

Im Übrigen: Stimmte denn nicht, was Väter und Großväter vom Segen der Kolonisierung zu erzählen wussten? Hatten die Deutschen nicht, anders als die Briten und die Franzosen, ihre Besitztümer in Übersee friedlich erworben, durch Kaufverträge statt durch Kanonenboote? Hatten rheinische Missionare und hanseatische Handelsleute den Primitiven nicht Religion und Zivilisation beschert, hatten die Kaiserdeutschen ihnen nicht Häfen und Hospitäler, Straßen und Bahntrassen hinterlassen?

Hart, aber gerecht, so hieß es, hätten die weißen Schutzherren ihre schwarzen Schutzbefohlenen behandelt. Hätten die tapferen "Boys" denn sonst im Ersten Weltkrieg als Träger und Askari - "Heia Safari!" - Seite an Seite mit Männern wie dem zackigen General Paul von Lettow-Vorbeck Deutschlands Kolonien in Afrika verteidigt, "gegen hundertfache Übermacht", "bis zum letzten Blutstropfen", "im Felde unbesiegt"?

Erst jetzt - 85 Jahre nach dem Verlust der deutschen Kolonien und ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn der globalen Entkolonisierung - scheint es, als ginge allmählich auch die Zeit der Legenden zu Ende: jener Geschichten, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden, gespeist aus völkischen Fibeln und nostalgischen Sammelalben voller bunter Bilder von Helden mit weißen Helmen und akkuraten Farmen unter grünen Palmwedeln.

Angeregt nicht zuletzt durch die "postcolonial studies" im angloamerikanischen Sprachraum, sei auch an deutschen Universitäten die Kolonialgeschichte "wieder entdeckt" worden, urteilt die Hamburger "Zeit". Längst widmen sich nicht allein angelsächsische Wissenschaftler etwa dem Freiheitskampf der "Herero Heroes" (so der Titel einer einschlägigen Studie).

Die deutsche Historikerin Birthe Kundrus hat zwei neue Untersuchungen vorgelegt. Ihr in Portugal lehrender Kollege Jürgen Zimmerer sieht im "Völkermord in Deutsch-Südwestafrika" (Buchtitel) ein "Menetekel" für "das, was noch kommen sollte". Holländische und namibische Historiker haben vergessene Dokumente über deutsche Kolonialverbrechen aufgespürt und wieder zugänglich gemacht.

Der Schriftsteller Hans Christoph Buch hält die Beschäftigung mit Ursachen und Folgen des kaiserlichen Kolonialismus schon für eine neue "akademische Mode". Und auch Buchs Kollegen sind dabei, das Thema zu entdecken.

Bereits Anfang vergangenen Jahres überraschte der Berliner Autor Gerhard Seyfried Publikum und Kritiker mit dem virtuos komponierten Kolonialroman "Herero". Das Buch, "minutiös recherchiert" und "sensationell interessant" ("FAZ"), spielt im Deutsch-Südwestafrika des Aufstandsjahres 1904.

Schon scheint es, als gerate - nach den jüngsten Diskursen über die Vertreibung der Deutschen und über die Luftkriegführung der Alliierten im Zweiten Weltkrieg - nun auch ein drittes verdrängtes Thema ins öffentliche Bewusstsein*. Die Jahrestage der blutig niedergeschlagenen Herero-Revolte, schreibt die "Neue Zürcher Zeitung", könnten in Deutschland eine "heftige Kolonialdebatte" auslösen.

In einer solchen Debatte wäre mancherlei zu klären - zum Beispiel, ob die "verspätete Nation" der Deutschen, die vor 120 Jahren, am 24. April 1884, als letzte in den Kreis der großen Kolonialmächte getreten war, trotz aller düsteren Phasen ihrer jüngeren Vergangenheit wenigstens über einen Umstand froh sein kann: dass sie weniger Kolonialgräuel verschuldet hat als andere Völker.

Oder sollte es ganz anders gewesen sein? Hat das Kaiserreich seine Kolonien nicht doch mit ganz besonderer Grausamkeit geführt? Mit dieser Begründung jedenfalls, von Deutschland als "Kolonialschuldlüge" hingestellt, hatten die Sieger des Ersten Weltkriegs, darunter nahezu alle Kolonialstaaten, Deutschland sämtliche Übersee-Besitztümer abgenommen.

Wurzelt die Weltanschauung der Nationalsozialisten nicht auch in der Kolonialpraxis der angeblich so guten alten Pickelhaubenzeit? Oder hat erst der Phantomschmerz nach der Wegnahme der Kolonien dem Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik entscheidenden Auftrieb gegeben? Besteht also ein "Zusammenhang zwischen Faschismus und dem Fehlen des deutschen Kolonialismus" nach 1918, wie ihn die indische Soziologin Shalini Randeria zur Debatte stellt?

Auf kaum eine dieser Fragen gibt es eine einfache Antwort. Unumstritten sind nicht einmal die Vorgänge, die zum Untergang der Herero-Nation geführt haben.

Unblutig - so viel ist sicher - war es zunächst zugegangen, als deutsche Kaufleute 1883 den Grundstock für das spätere Deutsch-Südwest legten.

Ein erst 21 Jahre alter Agent des Bremer Tabakgroßhändlers Adolf Lüderitz luchste bei einem Palaver ("Unsere Wünsche wurden in schneidigem Vortrag dargebracht") einem analphabetischen Häuptling der Nama, von den Deutschen herablassend Hottentotten genannt, ein Kreuz unter einen dubiosen Vertrag ab: 200 Pfund Sterling und 20 alte Gewehre für eine von Robben und Pinguinen besiedelte Atlantikbucht namens Angra Pequena samt wüstem Umland - "Sand, nichts als Sand", so ein Tagebucheintrag aus jener Zeit.

Nach langem Zögern stellte Reichskanzler Otto von Bismarck dem Bremer Handelsherrn einen Schutzbrief des Deutschen Reiches für dessen Besitz an der "Lüderitzbucht" aus, wie der Ort fortan genannt wurde. Eisern hatte sich der Kanzler - der das junge Kaiserreich konsolidieren und die gereizten Konkurrenzmächte nicht provozieren wollte - bis dahin jedem Wunsch der Wirtschaft nach Kolonien widersetzt.

So stöhnte Bismarck, als die Franzosen nach dem Krieg 1870/71 den deutschen Siegern einen Teil ihres asiatischen Kolonialbesitzes anboten: "O! O! Cochinchina. Das ist aber ein sehr fetter Brocken für uns; wir sind aber noch nicht reich genug, um uns den Luxus von Kolonien leisten zu können." Besitztümer in Übersee wären für das junge Reich "wie der seidene Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die keine Hemden haben".

Und noch zehn Jahre später schwor er: "So- lange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik ... Wir dürfen keine verwundbaren Punkte in fernen Weltteilen haben." Dass Bismarck von dieser Haltung schließlich abrückte, hatte wirtschafts- wie innenpolitische Gründe.

Die großen Handelshäuser verlangten nach billigen Rohstoffquellen und nach Möglichkeiten, die Zollschutzzonen der alten Kolonialmächte zu umgehen. Fabrikherren, die eine Revolte des rapide anwachsenden Industrieproletariats und der neun Millionen Arbeitslosen fürchteten, forderten Übersee-Besitztümer als neue Heimat für Auswanderer und als "Strafkolonien" für die "Garstigsten" unter den sozialdemokratischen Aufrührern.

Zugleich ergingen sich Kolonialparteien und -vereine, die mehr als 200 000 Mitglieder zählten, zunehmend in Weltmacht-Schwärmereien. Bismarck sah eine Chance, die verhasste Sozialdemokratie zurückzudrängen, und änderte seinen Kurs: "Die ganze Kolonialgeschichte ist ja Schwindel, aber wir brauchen sie für die Wahlen."

Im Wahljahr 1884 nutzte er einen weltpolitisch günstigen Zeitpunkt, um "den Deutschen ein neues Ziel zu geben, für das sie sich begeistern können": Während England, Frankreich und Russland in außenpolitische Zwistigkeiten verstrickt waren, verlieh der Kanzler den von deutschen Handelsherren zusammengekauften Territorien den Status eines "Schutzgebiets", wie er die Kolonien aus diplomatischen Gründen nannte.

Bismarck-Anhänger jubelten, die von Bismarck bekämpften Sozialdemokraten durchschauten die Pläne der Regierung. "Sie exportieren einfach die soziale Frage", rief im Reichstag der SPD-Politiker Wilhelm Liebknecht dem Kanzler zu, "Sie zaubern vor die Augen des Volkes eine Art Fata Morgana in den Sand Afrikas."

Binnen zwei Jahren flatterte die schwarz-weiß-rote Flagge nicht nur über einigen zusätzlich ergatterten Gebieten in Südwest, sondern auch in Togo und in Ostafrika, in Kamerun und im Pazifik. Zumeist waren die Landkäufer vorgegangen wie die Agenten von Lüderitz, den kritische Geister "Lügenfritz" nannten.

Den Landerwerb in Kamerun persiflierte ein zeitgenössisches Schunkellied nach der Melodie von "Jupheidi, jupheida":

King Aqua und King Bell
Sagten unlängst: "Very well",
Schenkten für sechs Pullen Rum
Uns ihr ganzes Königtum.

Erworben wurden auf diese Weise Weltgegenden, an denen die alten Kolonialmächte zuvor nur wenig Interesse gezeigt hatten. Bismarck gelang es, die Arrondierung des Kolonialreiches jeweils durch eine Art Gentlemen's Agreement mit seinen europäischen Kollegen abzusichern.

Als der behutsam navigierende Lotse Bismarck 1890 von Bord ging, nachdem er sich mit dem großsprecherischen jungen Kaiser Wilhelm II. überworfen hatte, war das Kolonialreich nahezu perfekt. Lediglich das chinesische Kiautschou sowie in der Südsee Samoa, die Karolinen-, Marianen- und Palau-Inseln wurden nach dem Rückzug des schmollenden Alten in den Sachsenwald noch hinzugewonnen.

Der Kaiser, der davon träumte, zu Wasser und zu Lande das britische Empire zu überflügeln, befahl seiner Marine im November 1897, die chinesische Hafenstadt Kiautschou im Handstreich zu nehmen. Als Vorwand diente die Ermordung zweier deutscher Missionare durch die chinesische "Gesellschaft der großen Messer".

Als sich die so genannten Boxer im Jahre 1900 erhoben, um die Deutschen (mittlerweile Pächter der Region Kiautschou) und alle anderen Kolonialherren zu vertreiben, schickte der Kaiser 11 790 Soldaten nach Fernost*. Dort erfüllten sie seinen Wunsch: "Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht."

"Die gefangenen Chinesen haben wir alle totgeschossen", schrieb ein junger Soldat, "aber auch alle Chinesen, die wir sahen und kriegten, haben wir alle niedergestochen und -geschossen." Ein anderer China-Kämpfer berichtete: "Am Sonntagnachmittag haben wir 74 Gefangene mit dem Bajonett erstechen müssen."

Diese Sonntagsarbeit stand unter dem Segen der Kirche. "Ein Kreuzzug ist's, ein heiliger Krieg", hatte ein protestantischer Pfarrer den Soldaten bei ihrer Verabschiedung zugerufen - zur Empörung des Sozialdemokraten August Bebel, der in einer seiner vielen mutigen Reichstagsreden die Heuchelei der Regierung anprangerte.

"Nein, kein Kreuzzug ist's, kein heiliger Krieg", wetterte der Abgeordnete. "Es ist ein ganz gewöhnlicher Eroberungskrieg und Rachezug und weiter nichts ... Da ist der Name Krieg wirklich zu anständig dafür ... Es ist endlich an der Zeit, dass wir uns energisch dagegen wehren, dass die Religion, dass die Kirche mit der Politik irgendwie verquickt wird."

Gerade diese Verquickung aber bildete eines der Fundamente deutscher Kolonialpolitik. Viele Missionare dienten nach ihrem Selbstverständnis nicht nur Gott, sondern den Kolonisatoren. Unverblümt bekannte der Missionswissenschaftler Joseph Schmidlin: "Durch Strafen und Gesetze kann der Staat den physischen Gehorsam erzwingen, die seelische Unterwürfigkeit und Anhänglichkeit der Eingeborenen bringt die Mission zu Stande."

Auch dass die Missionare dem schwarzen Mann ihre christliche Arbeitsethik predigten, war ganz nach dem Geschmack der Siedler - wenngleich einige, wie die Südwest-Farmersfrau Ada Cramer, meinten: "Nicht ,ora et labora', sondern ,labora et ora' muss die Richtschnur sein." Stolz zitierten Kirchenleute auf der 45. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands 1898 in Krefeld das ihnen von Kolonialunternehmern gezollte Lob für ihre Bemühungen, "Neger, Kanaken und Chinesen zu nützlichen Menschen zu erziehen".

Weniger hielten viele Weiße von einer Einbeziehung der Einheimischen ins Gebot der Nächstenliebe. Beifall fanden Männer wie der Kolonialoffizier August Boshart, der in einem Brevier ("Die Behandlung der Eingeborenen in den deutschen Kolonien") schrieb: "Der Neger ist ein blutdürstiges, grausames Raubtier, das nur durch das Auge und die Peitsche des Bändigers in Respekt erhalten werden kann."

Der Afrikaner, so der Herrenmensch, sei "von der Vorsehung geschaffen, dem Weißen zu dienen". Wenn sich die Schwarzen weigerten, ihre "namenlose Faulheit" abzulegen, hätten sie "keine Existenzberechtigung" mehr auf Erden.

"Wozu wollen wir den Neger erziehen?" Auf diese Frage wusste auch der Autor und Kolonialarzt Ludwig Külz eine "kurze und bündige Antwort": "Zur Arbeit für uns" - und zwar zu körperlicher Arbeit.

Statt "in Negerschädeln etwas Licht" zu verbreiten, empfehle es sich, "die Muskulatur des Schwarzen sich dienstbar zu machen oder, wenn man schon seinen Schädel verwerten will, ihn mit Trägerlasten anstatt mit Kulturbegriffen zu beladen". Das Pamphlet endet mit einem nicht minder zynischen Zitat: "Afrika den Afrikanern - aber uns die Afrikaner."

Vergebens mahnten liberale Kolonialunternehmer wie der Bremer Handelskaufmann Johann Karl Vietor, das gängige Gerede von der "Faulheit der Neger" sei nichts als "Schwindel" - viele Schwarze weigerten sich lediglich, zu Hungerlöhnen und unter Peitschenhieben auf den Plantagen der Europäer zu schuften.

Die Einheimischen, forderte Vietor, sollten nicht als "Untertanen" behandelt werden, sondern in Deutschlands Kolonien als "unabhängige, selbständige Bauern" leben können. Doch solche Stimmen gingen unter im rassistischen Gedröhn jener Zeit.

So setzte sich in den deutschen Kolonien nach der Jahrhundertwende eine Entwicklung fort, die schließlich - zwangsläufig? - in Serien von Massakern an Zehntausenden Eingeborenen gipfelte.

So konfliktlos sich auch in Südwestafrika die Landnahme zunächst vollzogen hatte, so brutal reagierten die Kolonialisten auf den aufkeimenden Widerstand.

Unter dem Regime des ersten Reichskommissars Heinrich Göring - Vater des späteren Nazi-Reichsmarschalls Hermann Göring - wurde den Schwarzen rasch bewusst, dass sie nahezu schutzlos waren gegenüber der Willkür der Schutzmacht und der Selbstjustiz der Siedler.

"In unzähligen Fällen wurden Misshandlungen an Eingeborenen mit Lattenstöcken und Rhinozeros-Peitschen ausgeübt", prangerte im Reichstag der Sozialdemokrat Bebel an. Nur Augenzeugen, schrieb der Forschungsreisende Wilhelm Vallentin in einer Berliner Zeitschrift, könnten ermessen, welche Folgen die Auspeitschung der oft nackt über ein Bierfass gebundenen Opfer hinterließ: "Ein rohes, gehacktes Beefsteak ist nichts dagegen!"

Nach und nach wurden mehr und mehr Eingeborene um ihre Existenzgrundlage, ihr Land und ihre Herden, gebracht. Skrupellose Händler, die mit Feuerwaffen und Feuerwasser, Geschirr und Glasperlen hökerten, nähmen seinen Landsleuten bereits "für ein Pfund Sterling Schuld zwei oder drei Rinder gewaltsam weg", beschwerte sich Herero-Oberhäuptling Samuel Maharero 1904 beim Gouverneur.

Neben dem "eigenmächtigen, gewaltsamen Eintreiben" der Wucherzinsen und dem Raub des besten Landes und der besten Wasserstellen habe vor allem die Vergewaltigung schwarzer Frauen durch die weißen Herren für Empörung gesorgt, beklagte ein Herero-Christ gegenüber dem deutschen Missionar Johannes Neitz: "Manche Männer sind totgeschossen worden wie Hunde, wenn sie sich weigerten, ihre Frauen und Kinder preiszugeben."

All das, hielt Neitz fest, habe im Januar 1904 den Aufstand der Herero ausgelöst: "Er war mit einem Male da, und da war kein Halten mehr, jeder rächte sich, und es war, als sei kein Verstand mehr unter den Massen." Die Aufständischen durchschnitten Telefondrähte, überfielen Farmen und massakrierten 123 deutsche Händler, Siedler und Soldaten (Missionare, Frauen und Kinder wurden verschont).

In den folgenden Monaten bestätigte sich, was schon zehn Jahre zuvor dem damaligen deutschen Schutztruppen-Führer Curt von François schwante: "Kolonisieren ist im Grunde ja nichts anderes als Erobern. Im ersten Stadium tritt dieses Moment nicht so deutlich für den Eingeborenen zu Tage ... Sobald aber die eigentliche Besiedlung beginnt, ändert sich das Verhältnis. Naturgemäß regt sich jetzt bei dem Eingeborenen der Widerstand, der Wunsch, das Joch abzuwerfen."

Der Gouverneur Theodor Leutwein, der auf eine diplomatische Lösung des Konflikts gesetzt hatte, wurde wegen angeblicher Schwäche entmachtet. In den Kolonialkrieg schickte der Kaiser den Haudegen Lothar von Trotha mit 10 000 Soldaten, Feldhaubitzen und Maschinengewehren. Über die Mentalität geben Feldpostbriefe Aufschluss: "Alles, was lebend ist und schwarze Farbe hat, wird niedergeschossen", schrieb einer. Und ein anderer: "Wehe ihnen, wenn sie uns in die Hände fallen. Weder Weib noch Junge werden verschont. Die schwarzen Hunde sind nichts wert."

Umstritten ist, ob Trotha von vornherein einen Völkermord völlig neuer Dimension plante (wie die heutigen Herero-Führer argumentieren) oder einen militärischen Vernichtungsschlag, wie er sich - bei aller Grausamkeit - noch in die damals übliche Praxis aller Kolonialvölker gefügt hätte.

Am prononciertesten wurde die Völkermord-These von DDR-Historikern vertreten: Trotha habe eine Taktik ausgetüftelt, die den Herero keine andere Wahl gelassen habe, als in die Omaheke auszuweichen - die Wüste als Werkzeug des Völkermords.

Angezweifelt wird diese Version nicht nur von namibischen Nachfahren der einstigen Siedler, sondern auch von dem einen oder anderen Geschichtswissenschaftler.

Am weitesten geht der Hamburger Historiker Klaus Lorenz. Er spricht von einer "Omaheke-Legende" und behauptet, das vieltausendfache Sterben in der Wüste sei "kein Völkermord" gewesen, sondern vielmehr ein "Beispiel für Kolonialkriegführung der europäischen Kolonialmächte im Zeitalter des Imperialismus".

Differenzierter argumentiert der renommierte münstersche Geschichtsprofessor Horst Gründer. Ursprünglich habe General von Trotha den aufständischen Herero "quasi ein militärisches ,Sedan' bereiten" wollen; nach einer vernichtenden Niederlage hätten die Überlebenden gefangen gesetzt werden sollen - mit dem Ziel, das rebellische Volk als politischen und militärischen Faktor auszuschalten. Dafür spreche, so Gründer, auch die von Trotha befohlene Errichtung eines für 8000 Menschen dimensionierten Gefangenenlagers aus Dornbusch und Stacheldraht.

Seine Pläne habe der General erst geändert, nachdem sein Versuch fehlgeschlagen sei, die Aufständischen am 11. August am Waterberg einzukesseln.

Beauftragt, "den hochmütigen Kaffernstamm für immer vernichtend aufs Haupt zu schlagen", nahm Trotha die feindlichen Stellungen stundenlang unter Artilleriebeschuss. Doch die Herero konnten den Ring durchbrechen - was laut Gründer "alles andere als einen Triumph für die deutsche Kriegführung darstellte" und "gegenüber Berlin vertuscht" werden musste.

Um seinen militärischen Nimbus besorgt, habe Trotha die Folgen seiner Fehlleistung, den massenhaften Dursttod der Entkommenen in der Omaheke-Wüste, in seinen Berichten nach Berlin als Bestandteil seiner Strategie hingestellt - und sich fortan so geäußert und verhalten, dass seine Version glaubwürdig erschien. Gründer: "Wenn dem General auch nicht von vornherein die Abdrängung der Herero in die wasserlose Omaheke als operatives Ziel vorschwebte, so passte die physische Vernichtung des Gegners an Stelle der militärischen doch als Alternativlösung genauso gut in sein Konzept."

Wie auch immer - Trothas berüchtigte Drohung vom 2. Oktober 1904, "jeder Herero" auf deutschem Kolonialgebiet werde "erschossen", ist aus Gründers Sicht "kaum anders denn als Genozid-Befehl zu definieren". Daran ändert auch nichts, dass der General in einer weniger bekannten Zusatzklausel, die er nur seinen Soldaten bekannt geben ließ, anordnete, "dass das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, dass über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen".

Der Wüstenmarsch Tausender Herero-Familien - erfüllt von der verzweifelten Hoffnung, die berüchtigte Durststrecke zu überwinden, das benachbarte Britisch-Betschuanaland zu erreichen und dort Asyl zu finden - führte geradewegs ins Verderben. In einem Rapport vom 4. Oktober an den Generalstab gibt Trotha ebendiesen Effekt als von ihm gewollt aus:

"Meine genaue Kenntnis so vieler zentralafrikanischer Stämme, Bantu und anderer, hat mir überall die überzeugende Notwendigkeit vor Augen geführt, dass sich der Neger keinem Vertrag, sondern nur der rohen Gewalt beugt ... Deshalb halte ich es für richtiger, dass die Nation in sich untergeht und nicht noch unsere Soldaten infiziert und an Wasser und Nahrungsmitteln beeinträchtigt. Außerdem würde irgendeine Milde von meiner Seite von Seiten der Herero nur als Schwäche aufgefasst werden. Sie müssen jetzt im Sandfeld untergehen oder über die Betschuanagrenze zu gehen trachten. Dieser Aufstand ist und bleibt der Anfang eines Rassenkampfes ..."

Unterstützt vom Kaiser, bestärkte die Militärführung in Berlin Trotha in dieser Auffassung. "Der entbrannte Rassenkampf", urteilte Generalstabschef Alfred von Schlieffen, "ist nur durch die Vernichtung oder vollständige Knechtung der einen Partei abzuschließen. Das letztere Verfahren ist aber auf Dauer nicht durchzuführen."

Gnadenlos trieb die deutsche Truppe die Fliehenden vor sich her. Der Herero-Historiker Alex Kaputu hat mündliche Überlieferungen von der Todesprozession durch die Wüste festgehalten:

"Wenn sie an einen Sandbrunnen kamen, und es gab Wasser, dann tranken die Krieger. Die Frauen tranken nicht, damit die Krieger Kraft hätten zu kämpfen. Und wenn sie Hunger hatten, sagten die Männer zu den Frauen: "Das Kind kann ruhig sterben. Ich muss aus deiner Brust die Milch saugen, denn ich kann nicht anders, damit ich kämpfen kann." Das ist, was meine Mutter selbst gesehen hat ...Wenn sie vielleicht an einen Sandbrunnen kamen, und der hatte kein Wasser mehr, und es lag ein Toter dort, dann schnitten sie ihrem Freund den Magen auf, um das Wasser zu trinken. Sie konnten nicht anders."

Wochenlang wurde die Wüste abgeriegelt, jeder Rückweg blockiert. "Die mit eiserner Strenge durchgeführte Absperrung des Sandfeldes vollendete das Werk der Vernichtung", beschrieb ein Oberleutnant die Folgen: "Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinnes ... verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit."

Als deutsche Patrouillen später das Sandfeld inspizierten, stießen sie auf grausige Spuren des Todesmarsches: "Gerippe von Menschen und Pferden bleichten an der Sonne ... An vielen Stellen hatten die mit dem Dursttode Ringenden mit fiebernder Hand 15 bis 20 Meter tiefe Löcher aufgewühlt, um Wasser zu graben - vergeblich!"

Solche Berichte trugen dazu bei, dass im Reich die Stimmung kippte. "Einen derartigen Krieg wie Herr von Trotha kann jeder Metzgerknecht führen", gab SPD-Führer Bebel im Parlament seiner Verachtung Ausdruck. Evangelische Missionskirchen protestierten, und sogar Südwestler gingen auf Distanz zu Trotha - sie befürchteten, seine Vernichtungsstrategie werde Arbeitskräftemangel verursachen.

Im Dezember 1904 musste Trotha auf Befehl des Großen Generalstabes den militärischen Ausrottungskurs aufgeben. Doch das große Sterben ging weiter - in eigens geschaffenen Konzentrationslagern, ein Begriff, der 1895 im spanisch-kubanischen Krieg geprägt wurde und den Reichskanzler Fürst von Bülow erstmals am 11. Dezember 1904 offiziell verwendete.

Bis zu einem Drittel der erschöpften Gefangenen überlebte nicht einmal den Marsch in die primitiven Lager, in denen Lungenentzündung und Skorbut wüteten. Die Insassen wurden in Ketten gelegt und mussten in Steinbrüchen und im Eisenbahnbau "unter den Knütteln roher Aufseher arbeiten, bis sie zusammenbrachen", entsetzte sich der Missionar Heinrich Vedder: "Wie Vieh wurden Hunderte zu Tode getrieben und wie Vieh begraben."

Allein in Lagern auf der Haifischinsel vor der Küste der Kolonie krepierten etwa 3000 Gefangene; insgesamt kamen 7700 ums Leben. Schädel der Toten, von Herero-Frauen mit Glasscherben freigeschabt, wurden zu "rassenanatomischen Untersuchungen" ins Mutterland geschickt.

Von der mörderischen Praxis versprach sich die Kolonialverwaltung einen erzieherischen Effekt. Die militärischen Erfolge der Deutschen hätten die Herero kaum beeindruckt, kabelte ein Vize-Gouverneur im Sommer 1905 an die Regierung, "nachhaltigere Wirkung verspreche ich mir von der Leidenszeit, die sie jetzt durchmachen".

Ein ähnliches Schicksal erlitt das Volk der Nama, das im Herbst 1904 in die Kämpfe eingriff - offenbar weil die Deutschen zuvor gedroht hatten, mit sämtlichen Schwarzen so zu verfahren wie mit den Herero. Nicht einmal jeder zweite der rund 20 000 Nama überlebte die Revolte.

Nach der Niederschlagung der Aufstände zerstörte die Kolonialverwaltung die alten Stammessysteme und beschlagnahmte die Stammesvermögen. Durch Einführung von Dienstzwang und Passpflicht wurden die enteigneten Völker zu besitzlosen Lohnarbeitern degradiert.

Im Jahre 1906 resümierte die "Kriegsgeschichtliche Abteilung I des Großen Generalstabes" das Ergebnis des Südwest-Kriegs, der rund 2300 Deutsche und etwa 70 000 Schwarze das Leben kostete, mit dem lapidaren Satz: "Die Hereros hatten aufgehört, ein selbständiger Volksstamm zu sein."

Unrühmlich wie Trotha machten in den afrikanischen Kolonien auch andere Deutsche von sich reden - allen voran Carl Peters, Hermann von Wissmann und Hans Dominik.

Zum Beispiel Peters: Getrieben von Großmannssucht und Habgier, eroberte der Pfarrerssohn von der Niederelbe weite Teile Ostafrikas, des heutigen Tansania. Der Abenteurer selbst hat beschrieben, mit welcher Methode er dabei vorging.

Näherte er sich einem Häuptlingssitz, ließ er zunächst "Gerüchte von meiner Macht" streuen und Schüsse abfeuern, "um die ,Kanaillen' einzuschüchtern". Sodann brachte er die Stammesführer mit "Ehrengeschenken" und einem "Trunk guten Grogs" in die "vergnüglichste Stimmung", auf dass sie ihm die "Blutsbrüderschaft" antrugen und ihm ihr Land "zu völlig freier Verfügung" überließen.

Hatten seine ne uen Freunde den Vertrag unterzeichnet, ließ Peters ihnen noch einmal mit Gewehrsalven demonstrieren, "was sie im Falle einer Kontraktbrüchigkeit zu erwarten hätten".

Wenn erst einmal, wie Bismarck spottete, so "ein Stück Papier mit Neger-Kreuzen drunter" existierte, waren Willkür, Ausbeutung und Raubbau kaum Grenzen gesetzt. Peters wurde seiner Ämter erst enthoben, nachdem in Berlin ein krasser Fall von Lynchjustiz publik geworden war.

Der eitle Eroberer von Deutsch-Ostafrika hatte eine schwarze Konkubine, die ihm angeblich untreu geworden war, samt ihrem Freund ohne Urteil aufhängen lassen. Überdies befahl "Hänge-Peters", wie ihn Kolonialkritiker im Reich nannten, seinen Truppen, die Heimatdörfer der beiden einzuäschern - was in der Gegend am Kilimandscharo einen monatelangen Aufstand gegen die Deutschen auslöste.

Zum Beispiel Wissmann: Der Schutztruppen-Kommandeur und Gouverneur von Deutsch-Ostafrika unternahm grausame Strafexpeditionen - etwa gegen die Kibosho, deren Chef es gewagt hatte, die kaiserliche Flagge vom Mast zu reißen. Der Stamm musste mit 200 Toten büßen.

Modernste Waffen setzte einer seiner Nachfolger, Graf Adolf von Götzen, 1905 beim "Maji-Maji-Aufstand" ein, als sich im Süden der Kolonie mehrere Stämme aus Protest gegen Prügeljustiz, Zwangsarbeit und eine so genannte Hüttensteuer erhoben. Die Aufständischen hatten sich von Medizinmännern einreden lassen, sie seien dank eines Wunderwassers unverwundbar.

Nachdem Tausende Menschen mit Maschinengewehren niedergemacht worden waren, vernichteten die gefürchteten Askari-Söldner der Deutschen alle gegnerischen Hütten und Nahrungsvorräte. Die Folge war eine einjährige Hungersnot, die nach Schätzung des SPD-Politikers Gustav Noske 150 000 Tote forderte.

"Die Zahl der Hungers Gestorbenen nahm von Tag zu Tag zu, das Elend wurde immer größer", beschrieb der deutsche Missionar Wilhelm Neuberg die Folgen der Vernichtungsstrategie. "Es kam schließlich dahin, dass zum Begraben der Toten nicht mehr Anverwandte oder Freunde vorhanden waren ... Man konnte vor Leichengestank oft kaum die Dörfer oder die daran vorbeiführenden Straßen passieren."

Zum Beispiel Dominik: "Die Neger müssen wissen, dass ich der Herr bin und der Stärkere; solange sie das nicht glauben, müssen sie es eben fühlen, und zwar hart und unerbittlich, so dass ihnen für alle Zeiten das Auflehnen vergeht" - nach diesem Motto verfuhr auch der Premierleutnant Hans Dominik bei seinen so genannten Befriedungsexpeditionen in Kamerun.

Mit dem Ruf "Weidmannsheil" ging er auf Menschenjagd, hinterher war mancher Stamm "kaum mehr als dem Namen nach vorhanden". Seinen Hass auf die Eingeborenen verhehlte der Zwirbelbärtige nie, der mit der Nilpferdpeitsche unterm Arm durch die Straßen stolzierte.

In den Dörfern von Aufständischen ließ Dominik seine sudanesischen Söldner wüten. Fasziniert beschrieb er das Treiben seiner Leute: "Echt afrikanisch - mit dem Bajonette - hatten die Sudanesen gearbeitet"; bei seinen Strafaktionen habe er "die Bestie im Menschen entfesselt gesehen".

Über einen der so genannten Feldzüge in Kamerun notierte der Forscher Vallentin, die deutschen Truppen hätten beim Überfall auf das Dorf auch "alten Weibern" die Hälse abgeschnitten. Halb verhungerte Greise und Kinder seien zur Arbeit im Hafenbau gezwungen worden ("Sie sterben aber alle weg"), andere auf einem Schiff Höllenqualen ausgesetzt worden:

Die Gefangenen sind tagelang in der glühendsten Hitze ... an die Relings derartig festgeschnürt worden, dass in die blutrünstigen und aufgeschwollenen Glieder Würmer sich eingenistet hatten. Und diese Qual tagelang in der Tropenhitze und ohne jede Labung! Als dann die armen Gefangenen dem Verschmachten nahe waren, wurden sie einfach wie wilde Tiere niedergeschossen.

"Die amtlichen Berichte, die natürlich von den Führern derartiger Expeditionen aufgesetzt werden, rühmen dann einen solchen Feldzug als eine der größten Heldentaten des Jahrhunderts", empörte sich Vallentin: "Nun ja! Papier ist geduldig, und niemand weiß oder bringt es an die Öffentlichkeit, was im dunklen Weltteil gefrevelt und verbrochen wird."

Vieles wurde, dank Männern wie Vallentin, dennoch bekannt. Eine Bilanz der deutschen Kolonialära zog Jahrzehnte später der Historiker Thomas Nipperdey. Der Kolonialismus sei ein gesamteuropäisches wie auch nordatlantisches Phänomen gewesen, urteilte er: "Die Deutschen unterscheiden sich da in nichts, in gar nichts von anderen, nicht positiv, nicht negativ."

Nach heftigen Protesten im Kaiserreich wurden Männer wie Trotha und Peters zwar abgelöst, Dominik musste nach eigenmächtig angeordneten Gräueln zeitweise in Zwangsurlaub gehen. Doch bei den Nazis galten die Schlächter allesamt wieder als Helden, denen Bücher, Denkmäler und Straßen gewidmet wurden.

Im Münchner Stadtteil Trudering etwa wurden 1933 gleich 29 Straßen nach den einstigen Kolonien und Kolonisatoren benannt. An dem Wohnviertel im Osten der Bayern-Hauptstadt lässt sich noch heute ablesen, was nach dem Zweiten Weltkrieg den Umgang der Deutschen mit ihrer Kolonialgeschichte bestimmte: vor allem Desinteresse.

Im Truderinger "Kolonialviertel" gibt es nach wie vor eine Lüderitzstraße, eine Leutweinstraße, eine Dominikstraße, eine Wissmannstraße - und natürlich auch eine Von-Trotha-Straße, die von einer Waterbergstraße gekreuzt wird.

Wirklich zu stören scheinen sich an der Namensgebung nur die Münchner Grünen, deren Fraktionschef Siegfried Benker für eine Überprüfung plädierte und auf zornigen Widerspruch der CSU stieß.

Dem Grünen gehe es nur um "persönliche Profilierung und Darstellung seiner linken Ideologien", polemisierte die örtliche CSU-Fraktion. Eine Umbenennung würde im Übrigen "enorme Kosten" verursachen und die Anwohner "in abenteuerlicher Weise belasten".

Siegfried Benker | siegfried.benker@muenchen.de